Vom Anfang an Schildkröten

Die Scheibenwelt ist ein Ort, an dem Geschichten passieren.

Ich hätte nie gedacht, dass sich irgendwann einmal Leute hinsetzen und die Melodie für den Stock-und-Eimer-Tanz in Lancre schreiben, eine Morisken-Tanzgruppe namens "Frau Stuebenreins Untermieter" bilden oder ein Halstuch der Unsichtbaren Universität entwerfen - das sich auch noch gut verkauft. Wäre mir das zu Anfang klar gewesen, hätte ich sicher Kopfschmerzen bekommen. Aber damals hielt ich es nicht für möglich, dass die ganze Sache einmal real wird.

Ich hätte nie gedacht, dass mich jemand fragt, wann Tod Geburtstag hat.

Aber der Realität kann man selten trauen. Viele Leute glauben, dass Elvis lebt. Oder dass gelegentlich Außerirdische landen, um sehr private Dinge mit einigen Menschen anzustellen. Manche halten das Konzept der Evolution für eine Verschwörung gottloser Wissenschaftler. In den meisten Fällen dürfen solche Leute wählen, und einige von ihnen besitzen Waffen. Wenn man die Dinge aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint die Scheibenwelt vergleichsweise harmlos.

Offenbar haben wir ein schildkrötenförmiges Loch in unserem Bewusstsein. Auf welchem Kontinent auch immer Schildkröten existieren: Die ersten Menschen sahen sich diese Geschöpfe an, die sich auf Baumstämmen sonnten (oder mit einem leisen Platschen im Wasser verschwanden, wenn sich die Neugierigen zu sehr näherten), und aus irgendeinem Grund kamen sie schließlich auf den Gedanken, dass eine größere Version dieser Tiere die Welt auf ihrem Rücken trug.

Später kamen Priester und rechtfertigten ihre Spesen, indem sie das eine und andere hinzufügten, zum Beispiel große Schlangen und noch viel größere Elefanten. Nach einer Weile stellte man sich die Welt nicht mehr rund und flach vor, sondern wie eine umgekehrte Untertasse. Wie dem auch sei: Schildkröten waren der Anfang, und zwar überall, in Afrika und Australien ebenso wie in Asien und Nordamerika. Vielleicht geht ein großer Teil des modernen Unbehagens auf die tief verwurzelte Furcht zurück, dass es früher oder später platscht.

Als Neunjähriger stieß ich in einem Astronomiebuch auf diesen Mythos. Zu jener Zeit hielt man die Technik für ein Allheilmittel, und alle Bücher über Astronomie beinhalteten ein Kapitel mit dem unsichtbaren Titel: "Lachen wir doch mal über die Toga-Fritzen, die an jeden Unsinn glaubten." (Die damalige "Realität" bestand aus dem Atomreaktor Zeta. Er sollte so viel Energie produzieren, dass wir Geld bekamen, um Elektrizität zu verbrauchen.) Damit war die Scheibenwelt geboren, mehr oder weniger. Das Bild blieb die ganze Zeit über bei mir - vermutlich steckte es in dem bereits erwähnten schildkrötenförmigen Loch - und schob sich genau zum richtigen Zeitpunkt ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit. […]

Die Phantasie ist wie Alkohol: Zuviel davon schadet der Gesundheit, aber ein wenig macht das Leben lebenswerter. Sie bringt einen ebenso wenig zu fernen Orten wie die Trainingsräder in einer Sporthalle, aber sie kräftigt jene Muskeln, die dazu in der Lage sind. Das Träumen mit offenen Augen hat uns dorthin geführt, wo wir heute sind: Während einer frühen Phase unserer Evolution haben wir so gut gelernt, die Gedanken schweifen zu lassen, dass diese mit Souvenirs zurückkehren.

Und wären wir nicht in der Lage, uns gelegentlich von der Realität zu verabschieden, so säßen wir noch immer am Ufer jenes uralten Flusses und fürchteten das Platschen.

Terry Pratchett